Warum das deutsche Bildungssystem versagt – und was wir dagegen tun können
Nico Bovelette
Ich bin Teach First Fellow. Das heißt, ich arbeite an einer “Brennpunkt”-Schule in Stuttgart. Dabei sehe und erfahre ich täglich das, was in den Medien immer mal wieder hochkommt.
Das deutsche Schulsystem steht vor großen Herausforderungen: Lehrermangel, soziale Ungleichheit, mangelnde Digitalisierung, schlechte Lernergebnisse. Viele Expert:innen und Bürger:innen sind unzufrieden mit dem Status quo und fordern grundlegende Reformen.
Doch wie können wir unser Schulsystem verbessern und zukunftsfähig machen? Welche Lösungsansätze gibt es und was können wir von anderen Ländern lernen?
In diesem Blogbeitrag wollen wir uns mit diesen Fragen beschäftigen und einige konkrete Forderungen formulieren, die zu einer besseren Bildung für alle beitragen können.
Gliederung
1. Probleme im Bildungswesen
Das deutsche Bildungssystem ist eines der wichtigsten Themen in unserer Gesellschaft. Schließlich geht es um die Zukunft unserer Kinder und unseres Landes. Doch leider hat unser Schulsystem viele Schwächen und Ungerechtigkeiten, die schon lange bekannt sind, aber nur langsam angegangen werden.
Einige der gravierendsten Probleme sind:
1. Lehrermangel
Bis 2025 fehlen laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung über 26.000 neue Lehrer:innen in Deutschland. Das bedeutet, dass viele Schüler:innen und Schüler nicht ausreichend unterrichtet werden können, vor allem in Fächern wie Mathematik, Naturwissenschaften oder Fremdsprachen. Der Lehrermangel trifft besonders die Schulen in sozial schwachen Gebieten, die ohnehin schon mit vielen Herausforderungen zu kämpfen haben.
Um den Lehrermangel zu beheben, müssen mehr Anreize für den Lehrerberuf geschaffen werden. Dazu gehören unter anderem:
- Die Erhöhung der Studienplätze für Lehramt
- Die Verbesserung der Ausbildungsqualität und der Praxisbezüge
- Die Anpassung der Besoldung und der Arbeitsbedingungen an die Anforderungen des Berufs
- Die Förderung von Quereinsteiger:innen und Seiteneinsteiger:innen
- Die Schaffung von attraktiven Karriereperspektiven und Weiterbildungsmöglichkeiten
2. Schule als Auffangbecken
Die Schule soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch soziale Kompetenzen fördern, Integration ermöglichen und individuelle Förderung bieten. Das ist eine große Aufgabe, die viel Engagement und Ressourcen erfordert. Doch oft fehlen den Schulen die nötigen Mittel und Unterstützung, um diese Aufgabe zu erfüllen. Viele Lehrkräfte sind überfordert und frustriert, viele Schüler:innen und Schüler fühlen sich vernachlässigt und demotiviert.
Um die Schule als Auffangbecken zu entlasten, müssen mehr Kooperationen mit anderen Institutionen geschaffen werden. Dazu gehören unter anderem:
- Die Einbindung von Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen oder Erzieher:innen in den Schulalltag
- Die Zusammenarbeit mit Eltern, Vereinen oder lokalen Unternehmen
- Die Nutzung von digitalen Medien und Plattformen für den Unterricht
- Die Förderung von außerschulischen Lernorten wie Museen, Bibliotheken oder Betrieben
3. Veränderung von Anforderungen von Gesellschaft und Wirtschaft
Die Welt verändert sich rasant durch Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel. Das stellt neue Anforderungen an die Bildung, die nicht nur Fachwissen, sondern auch Schlüsselkompetenzen wie Kreativität, Kommunikation oder Problemlösung verlangt. Das deutsche Bildungssystem ist jedoch noch zu stark auf das Auswendiglernen von Fakten ausgerichtet und bietet zu wenig Raum für individuelles Lernen, Experimentieren und Entdecken.
Um die Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft zu erfüllen, müssen mehr Innovationen im Bildungsbereich gefördert werden. Dazu gehören unter anderem:
- Die Einführung von neuen Fächern oder Lernbereichen wie Medienkompetenz, Nachhaltigkeit oder interkulturelle Bildung
- Die Umsetzung von projektorientiertem oder fächerübergreifendem Lernen
- Die Entwicklung von individuellen Lernplänen oder Portfolioarbeit
- Die Beteiligung von Schüler:innen und Schüler an der Gestaltung des Unterrichts und der Schulkultur
Um das Schulsystem gerechter zu gestalten, müssen mehr Durchlässigkeit und Flexibilität geschaffen werden. Dazu gehören unter anderem:
- Die Abschaffung oder Reform des gegliederten Schulsystems zugunsten einer längeren gemeinsamen Grundschulzeit oder einer integrativen Gesamtschule
- Die Förderung von inklusivem Unterricht für Schüler:innen mit besonderem Förderbedarf oder Behinderungen
- Die Unterstützung von Schüler:innen mit Migrationshintergrund durch Sprachförderung und interkulturelle Bildung
- Die Erleichterung von Schulwechseln oder Übergängen zwischen verschiedenen Bildungswegen
- Die Anerkennung von unterschiedlichen Abschlüssen und Qualifikationen
2. Lösungen im Bildungswesen
Wie kann man diese Probleme lösen? Es gibt kein einfaches Rezept dafür, aber es gibt einige Ansätze und Ideen aus anderen Ländern, die uns Anregungen geben können:
- Mehr Investitionen in Bildung: Deutschland gibt im internationalen Vergleich relativ wenig Geld für Bildung aus. Vor allem in den frühen Jahren, in denen sich viel erreichen lässt, wird zu wenig investiert. Mehr Geld allein reicht natürlich nicht aus, aber es ist eine wichtige Voraussetzung für bessere Qualität und Gerechtigkeit in der Bildung. Mehr Geld bedeutet mehr Lehrkräfte, mehr Fortbildungen, mehr Ausstattung, mehr Unterstützung für benachteiligte Schülerinnen und Schüler etc.
- Mehr Zusammenarbeit und Vernetzung: Das deutsche Bildungssystem ist sehr zersplittert und isoliert. Die verschiedenen Akteure (Bund, Länder, Kommunen, Schulen, Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler etc.) arbeiten oft aneinander vorbei oder sogar gegeneinander. Das führt zu Ineffizienz, Inkonsistenz und Unzufriedenheit. Ein besseres Bildungssystem erfordert mehr Kooperation und Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen und Bereichen. Das gilt sowohl innerhalb des Bildungssystems (zum Beispiel zwischen den verschiedenen Schulformen oder zwischen Schule und Hochschule) als auch außerhalb (zum Beispiel zwischen Schule und Wirtschaft oder Schule und Zivilgesellschaft). Länder wie Singapur oder die Niederlande haben zum Beispiel ein starkes nationales Bildungsprogramm, das klare Ziele und Standards vorgibt, aber auch viel Raum für lokale Anpassungen lässt. Mehr Autonomie für Schulen: Viele erfolgreiche Bildungssysteme zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Schulen mehr Freiheit und Verantwortung geben. Das bedeutet, dass sie mehr Entscheidungsspielraum haben, wie sie ihren Unterricht gestalten, welche Schwerpunkte sie setzen, wie sie ihre Schülerinnen und Schüler fördern und fordern, wie sie mit externen Partnern zusammenarbeiten etc. Das erfordert auch mehr Unterstützung und Qualifizierung für die Schulleitungen und Lehrkräfte, die diese Aufgaben übernehmen müssen. Länder wie Finnland oder Kanada zeigen, dass mehr Autonomie zu mehr Innovation und Qualität führen kann.
- Mehr Durchlässigkeit und Flexibilität im Schulsystem: Das deutsche Schulsystem ist sehr starr und lässt wenig Raum für individuelle Bildungswege. Wer einmal eine bestimmte Schulform besucht, hat es schwer, zu einer anderen zu wechseln oder einen höheren Abschluss zu erlangen. Das führt dazu, dass viele Schülerinnen und Schüler frühzeitig abgehängt werden oder sich unterfordert fühlen. Ein flexibleres Schulsystem würde es ermöglichen, dass die Kinder und Jugendlichen nach ihren Fähigkeiten und Interessen gefördert werden und nicht nach starren Kriterien sortiert werden. Länder wie Schweden oder Neuseeland haben zum Beispiel ein gemeinsames Schulsystem für alle bis zum Alter von 15 oder 16 Jahren, das eine breite Allgemeinbildung vermittelt und individuelle Schwerpunkte zulässt.
3. Andere Länder andere Sitten
Es gibt viele Faktoren, die ein Bildungssystem besser oder schlechter machen können, und es ist nicht immer einfach, sie zu vergleichen. Aber es gibt einige Länder, die in internationalen Studien wie dem PISA-Bericht oder dem UNESCO-Weltbildungsbericht regelmäßig hohe Leistungen und Gerechtigkeit in der Bildung zeigen. Hier sind einige Beispiele für Länder, die etwas besser machen als Deutschland in ihrem Bildungssystem:
- Finnland: Finnland hat seit dem Jahr 2000 den inoffiziellen Titel des weltweit besten Bildungssystems beibehalten. Finnland zeichnet sich durch eine hohe Qualität und Gleichheit in der Bildung aus, die auf einem gemeinsamen Schulsystem für alle bis zum Alter von 16 Jahren basiert. Die Schülerinnen und Schüler haben viel Autonomie und Wahlmöglichkeiten in ihrem Lernen, die Lehrkräfte sind hoch qualifiziert und respektiert, die Schulen sind gut ausgestattet und vernetzt, und die Bildungspolitik ist langfristig und konsensbasiert.
- Südkorea: Südkorea ist ein weiteres Land, das bei internationalen Vergleichen wie dem PISA-Bericht sehr gut abschneidet. Südkorea hat in kurzer Zeit ein beeindruckendes Bildungssystem aufgebaut, das auf einer starken Wertschätzung von Bildung als Motor für die Entwicklung des Landes beruht. Die Schülerinnen und Schüler haben hohe Erwartungen und Anstrengungen, die Lehrkräfte sind gut bezahlt und ausgebildet, die Schulen sind modern und technologisch fortgeschritten, und die Bildungspolitik ist reformorientiert und evidenzbasiert.
- Dänemark: Dänemark ist ein Land, das für seine hohe Lebensqualität und sein glückliches Volk bekannt ist. Ein wichtiger Faktor dafür ist sein gutes Bildungssystem. Dänemark hat eine inklusive und flexible Bildung, die auf den Bedürfnissen und Interessen der Schülerinnen und Schüler basiert. Die Schülerinnen und Schüler haben viel Freiheit und Verantwortung in ihrem Lernen, die Lehrkräfte sind kreativ und kooperativ, die Schulen sind demokratisch und partizipativ, und die Bildungspolitik ist transparent und dialogisch.
Das sind nur einige Beispiele für Länder, die uns inspirieren können, wie wir unser Bildungssystem verbessern können. Natürlich gibt es kein perfektes Bildungssystem, das für alle passt. Jedes Land hat seine eigenen Stärken und Schwächen, seine eigenen Herausforderungen und Chancen. Aber wir können immer von anderen lernen, wie sie ihre Bildungsziele erreichen – zum Wohl ihrer Kinder und Jugendlichen und ihrer Gesellschaft.
4. Ganz konkrete Forderungen!
- Duales Studium und verpflichetende Fortbildungen für Lehrer: Eine bessere Ausbildung und Fortbildung von Lehrern, die ihnen didaktische und methodische Kompetenzen vermittelt, um auf die Bedürfnisse und Interessen der Schülerinnen und Schüler einzugehen, sowie ihnen Möglichkeiten zur Vernetzung und zum Austausch mit anderen Lehrkräften bietet.
- Bürokratie-Abbau: Eine Studie des Deutschen Lehrerverbands zeigt, dass Lehrer oft einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit mit administrativen Aufgaben
verbringen müssen. Ein Abbau von Bürokratie und eine größere Eigenständigkeit der Schulen, die ihnen mehr Spielraum für pädagogische Innovationen und individuelle Förderung ermöglicht, sowie eine stärkere Orientierung an den Lern- und Leistungsergebnissen der Schülerinnen und Schüler statt an starren Lehrplänen. - IT-Abteilungen für Schulen: Lehrer sind Lehrer, keine IT-Spezialisten. Eine bessere IT-Ausstattung und Internetanbindung für alle Schulen, die einen digitalgestützten Unterricht ermöglicht, der die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler fördert und ihnen Zugang zu vielfältigen Lernressourcen bietet. Dazu gehört auch eine qualifizierte IT-Betreuung und -Beratung für die Schulen.
- Inklusion mit Zug-System: Eine stärkere Förderung des gemeinsamen Lernens aller Kinder unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Begabung oder ihrem Förderbedarf, z.B. durch die Etablierung von inklusiven Schulen, die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund oder die Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems
- Keine Angst vorm Quereintieg: Fördert gezielt den Quereinstieg von Personen mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium in den Lehrerberuf. Dies trägt dazu bei, den Lehrermangel zu verringern, der vor allem in bestimmten Schulformen, Regionen und Fächern besteht. Außerdem erhöt der Quereinstieg die Vielfalt und die Qualität des Lehrpersonals, indem er Menschen mit unterschiedlichen beruflichen und persönlichen Erfahrungen, Kompetenzen und Perspektiven in die Schule bringt. Gleichzeitig muss für Quereinsteiger:innen eine angemessene pädagogische Qualifizierung und Begleitung zur Verfügung gestellt werden, damit sie den Anforderungen des Lehrerberufs gerecht werden können.
Und was kannst du tun?
Neben den politischen und schulischen Reformen, die wir gefordert haben, gibt es auch Möglichkeiten, wie jeder und jede von uns einen Beitrag zur Verbesserung des Bildungssystems leisten kann. Eine davon ist, sich bei einer Organisation wie Teach First Deutschland zu engagieren. Teach First Deutschland ist eine gemeinnützige Bildungsinitiative, die Hochschulabsolvent:innen aller Studienrichtungen für zwei Jahre an Schulen in sozialen Brennpunkten entsendet, wo sie als zusätzliche Lehrkräfte die Schüler:innen im Unterricht und außerunterrichtlich fördern. Dabei machen sie eine prägende Erfahrung und werden Teil einer globalen Bewegung für gerechte Bildung. Wenn du dich für das Leadership-Programm von Teach First Deutschland interessierst, kannst du dich hier bewerben.
Es gibt aber auch andere Organisationen und Initiativen, die sich für eine bessere Bildung einsetzen und auf deine Unterstützung angewiesen sind. Zum Beispiel kannst du dich als Mentor:in, Nachhilfelehrer:in oder Freiwillige:r bei Projekten wie ArbeiterKind.de, Chancenwerk oder ROCK YOUR LIFE! engagieren und benachteiligten Schüler:innen helfen, ihre Potenziale zu entfalten. Oder du kannst dich als Spender:in oder Fördermitglied bei Organisationen wie der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft oder der Stiftung Fairchance beteiligen und ihre Arbeit für mehr Bildungsgerechtigkeit unterstützen.
Abschluss
In diesem Blogeintrag habe ich einige der Probleme des deutschen Bildungssystems aufgezeigt und mögliche Lösungen vorgeschlagen. Ich habe mich auch inspirieren lassen von den Erfahrungen und Best Practices anderer Länder, die mir zeigen, dass eine bessere Bildung möglich ist. Ich habe zudem einige konkrete Forderungen formuliert, die ich an die Politik, die Schulen und die Gesellschaft richte, um unser Schulsystem zu reformieren und zu modernisieren. Ich bin überzeugt, dass eine bessere Bildung für alle nicht nur ein wünschenswertes Ziel, sondern auch eine notwendige Voraussetzung für eine gerechte, demokratische und nachhaltige Gesellschaft ist. Ich hoffe, dass dieser Blogeintrag dazu beiträgt, eine breite und konstruktive Debatte über die Zukunft unseres Bildungssystems anzustoßen und zu einer Veränderung zum Besseren zu motivieren.
Über mich
Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist im deutschen Bildungssystem. Deshalb habe ich mich entschieden, als Fellow an einer Werkrealschule in Stuttgart zu arbeiten und Schüler:innen aus benachteiligten Verhältnissen zu unterstützen.